Von der Tradition zur Abstraktion

Schon im Kindergarten und in der Volksschule fiel Marlys Rohr durch besonders sorgfältig ausgearbeitete Zeichnungen Ideenreichtum und Freude bei gestalterischen Arbeiten auf. Als Autodidaktin verfeinerte sie ihre Technik: Von den kindlichen Scherenschnitten brachte sie es bis zu detailreichen, komplexen Mustern in fantasievoll aufgebauten Bildern.

Ihre Scherenschnitte haben meist einen epischen Hintergrund, sie erzählen von fröhlichen Kindern, vom Leben auf dem Bauernhof, von Hochzeiten und Geburtstagsfesten mit Tanz und Musikanten oder vom Lebenslauf. Manchmal schneidet sie auch biblische Themen wie die Schöpfung, das Paradies oder die Arche Noah sowie Besinnliches wie einen Lebensbaum. Sie liebt das Ornamentale und bringt in ihre Landschaften, in Felder und Hügelzüge spezielle Strukturen, die an Holzschnitte von Emil Zbinden erinnern. Vom anfänglich streng symmetrischen bis zum völlig freien Schnitt hat sie alle Varianten durchgespielt.

Das Faszinierende am Scherenschneiden ist für sie, dass man mit einem Minimum an Material auskommt: mit Papier und einer Schere. Anderseits ist Scherenschneiden aber bereits bei der Planung mit harter Arbeit verbunden: beobachten, ausdenken, entwerfen, aufzeichnen, probieren und dann erst ausschneiden, aufkleben und einrahmen.

Marlys Rohr schöpft ihre Themen und Ideen aus dem Leben und aus der Natur; sie gestaltet keine traditionellen Alpaufzüge. Oft kommen neue Ideen in der Nacht, wenn sie nicht schlafen kann. Wenn sie dann am Morgen freudig aufsteht, kann sie es kaum erwarten, endlich ihre Ideen zu verwirklichen. Es ist dann wie ein Geschenk des Himmels. Anfänglich machte Marlys Skizzen und zeichnete viel vor. Mit der Routine begann die Schere sich immer weniger an die vorgezeichneten Linien zu halten; die Fantasie liess Marlys in kreativer Weise über das zuerst Erdachte hinausschneiden, bis sie schliesslich meistens nur noch frei aus der Hand schnitt.

Am meisten freut es Marlys, wenn die Betrachter ihre Werke sehr aufmerksam und lange anschauen und darin immer wieder Neues entdecken. Oft sind es sogar kleine Kinder, die das können. Einmal öffnete sie einen ihrer grossen Scherenschnitte zum ersten Mal im Kindergarten und legte ihn im «Kreisli» auf den Boden. Die Kinder staunten mit offenen «Müli» und vor Begeisterung tropfte Einzelnen sogar der Speichel aufs Papier.

Ihre Scherenschnittkunst führte sie während Jahren an der BEA in der Halle «Handwerk an der Arbeit» vor. Damit leistete sie einen Beitrag zur Weiterverbreitung des klassischen Scherenschnitts, der in den 90er-Jahren in einem eigentlichen Scherenschnitt-Boom gipfelte. Ein renommierter Schmuckladen in Bern liess einmal für eine gemeinsame Ausstellung Broschen, Anstecknadeln, Ringe und Anhänger aus Gold und Onyx nach Scherenschnitten von Marlys Rohr herstellen.

In den Jahren 1986, 1992, 1994 und 1999 erfolgte je ein Ankauf eines Scherenschnittes durch die Kommission für angewandte Kunst des Kantons Bern.

Am Anfang war das Scherenschneiden wie eine extreme Sucht, täglich schnitt sie acht bis zehn Stunden, manchmal bis tief in die Nacht hinein –und dies neben Beruf und Familie. Stets hatte sie ein Scherlein und Papier bei sich, um jede freie Minute zu nutzen: im Wartzimmer beim Arzt, im Café beim belanglosen Plaudern, im Stau auf der Autobahn. Nach einem Jahrzehnt rebellierte jedoch der Körper;  wegen der stets gleichen, verkrampften Stellung beim Schneiden machten sich Nackenbeschwerden immer stärker bemerkbar, die schliesslich in einer akuten Diskushernie gipfelten. Deshalb suchte sie nach neuen Wegen: Seit ihrer Kindheit hatte sie Freude an harmonischen Farbkombinationen, die sie in den klassischen Scherenschnitten als Gestaltungsmittel je länger je mehr vermisste. Versuche mit farbigen Scheren-schnitten überzeugten sie aber nicht, weil Schwarz-Weiss für einen optimalen Kontrast bei feinen Schnitten unabdingbar ist. Ein solcher Versuch stellt die Flamingo-Oase dar. Im schwarz-weissen Dschungel hat sie nur das Zentrum mit den badenden Flamingos farbig geschnitten –aus selbst eingefärbtem Papier. Dann folgten Collagen von farbigen Scherenschnitten, die sie kulissenartig gestaffelt auf Treppenstufen in dreidimensionale Acrylrahmen klebte. Diese Technik war schon für kleine Kästchen mit einem unverhältnismässig grossen Aufwand verbunden. Ähnlich aufwendig und schwierig war das Einrahmen von Figuren-Scherenschnitten zwischen Gläsern und Spiegeln.

Vor zehn Jahren begann Marlys, farbige Bilder auf verschiedene Arten ganz oder teilweise mit dem Messer zu zerschneiden und sie in verdrehter, manchmal auch in verschlungener Form wieder zusammenzustecken oder -kleben. Es ergab sich eine Fülle völlig neuer Möglichkeiten: Die neuartigen Papierschnitte sind dreidimensionale Werke, die zum Teil als Collagen auch gegenständliche Elemente oder Silhouetten enthalten, aber in ihrer Ganzheit abstrakt wirken. Im Spiel mit Formen, Papier, Schere, Messer und Farben kann sie ihren täglichen Drang zu stundenlanger kreativer Betätigung und ihre unbändige Freude am Experimentieren voll ausleben, ohne dabei in rückenschädigender Stellung verharren zu müssen.

Marlys Rohr ist somit durch ihre neu entwickelte Technik ihrem ursprünglichen Handwerk  –dem Schneiden– treu geblieben, wenn auch in einer anderen Art und Weise.

Übrigens: Die in diversen Arbeiten enthaltenen Silhouetten von Figuren in vielen Stellungen und Bewegungen werden immer vielfältiger. Sie werden zuerst farbig, dann grösser; sie verlassen den engen Raum, kriechen in Lampen hinein um vom Licht durchdrungen zu werden.  Sie gehen auch auf den Jakobsweg,  werden von geistigen Werten erfüllt und träumen davon, sich schliesslich in dreidimensionale Skulpturen zu verwandeln.

 Marlys Rohr arbeitete gedanklich und praktisch schon lange daran, diesen Traum in einer modernen und speziellen Art zu verwirklichen:
Nun fertigt sie Skulpturen aus Draht und Papier, Bewegungsstudien von Sportlern, Tänzern und Turnern aber auch nostalgisch anmutende Damen in Gewändern mit Stola und Hut.
Einige werden uni mit Pigmentfarben bemalt, so dass sie weiss, metallisch oder wie aus Ton gefertigt wirken; andere sind schwarz-rot-weiss, um dem abstrahierten Rumpf einen modern-artigen Touch zu verleihen.